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Stuart Andreas

Kommentar auf einen Leser*innenbrief

Normalerweise lese ich nicht unbedingt Leser*innenbriefe, geschweige denn, Kommentarspalten. Ihr werdet ahnen, wieso: Psychohygiene. Diesmal bezog es sich aber um ein Fachmagazin (report psychologie, 05/23) des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP), der mit über 10.000 Mitgliedern einer der größten deutschsprachigen Verbände für Psycholog*innen ist. Der Brief bezog sich auf die Ausgabe 03/23 mit Thema "Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt", das zog mein Interesse auf sich. Ich fand diesen Brief dermaßen empörend, dass ich daraufhin der Chefredaktion meine Kritik mitgeteilt habe.

Bereits wenige Tage nach meinem Schreiben bekam ich von ihnen eine Antwort, die ich ehrlich und wertschätzend empfand. Sie hoffen, niemanden verletzt zu haben und entschuldigen sich, falls das doch geschehen ist. Es sei bereits eine Erwiderung auf diesen Brief für die nächste Ausgabe geplant gewesen. Autor*innen, die Artikel zum Genderaspekt in der Psychotherapie verfasst haben, hätten die kontroverse Meinung in dem Brief sogar befürwortet. Meine Perspektive dazu ist: ich halte Kontroversen für wichtig und richtig, aber dabei sollte eine gewaltfreie Sprache verwendet und die eigene Meinung nicht für absolutes Wissen gehalten werden. Mit letzterem könnte ich noch besser leben; Ignoranz kommt in unserem Berufsstand (wo ich sie dagegen noch weniger nachvollziehen kann) genauso vor, wie in der Allgemeinbevölkerung. Aber Diskussionen sollten mit sachlichen, möglichst wissenschaftlichen Argumenten geführt werden, nicht mit aggressiver Polemik gegen marginalisierte Personen(gruppen).

Die Redaktion hat mich freundlich eingeladen, einen Kommentar zu diesem Brief zu schreiben. Das Angebot habe ich angenommen, um die Auseinandersetzung auf einer sachlicheren Ebene fortzusetzen. Angesichts von "nur" 3000 Zeichen konnte ich den Kommentar nicht so ausführlich schreiben, wie ich gerne hätte, freue mich aber dennoch über diese Möglichkeit. Mein Kommentar wird nun, ebenfalls als Leser*innenbrief, in der nächsten Ausgabe des report psychologie (7-8/23, veröffentlich am 20.07.23) erscheinen.


Hier mein Leser*innenbrief:

Ich kann nicht anders als diesen Beitrag demagogisch zu nennen, da er unwissenschaftlich, polemisch und abwertend in Inhalt und Sprache ist. Die Gender“argumente“ der Person lassen sich - wenn man sie überhaupt im wissenschaftlichen Diskurs Vororten möchte - ideengeschichtlich im 18.-19. Jhd., teilweise im Vormittelalter verorten, die darunter liegende epistemische Position kann man kaum einer Philosophieschule zumuten, vlt. am ehesten dem Sophismus im 4. Jhd. v. Chr. oder dem Rationalismus im 17./18. Jahrhundert. Zudem ist die implizit eingeforderte binäre Sichtweise ethnozentrisch, da in nicht westlichen Kulturen Konzeptionen von mehr als zwei Geschlechtern historisch belegt sind.

Die/der Autor*in postuliert eine „natürliche Grundlage“ von Geschlecht (ohne anzuführen, welche das sein soll), moderne Genderkategorien seien „realitätsferne Konstrukte“. Da die zeitgemäße Forschung (auch Biologie und Medizin) jedoch eindrücklich belegt, dass Geschlecht ein Spektrum und die Bezugnahme auf Hormone oder Organe unzureichend uneindeutig ist, kann man viel eher deren ausschließliche Verwendung als realitätsfern ansehen. Geschlecht ist performativ, komplex und biopsychosozial.

Die Person behauptet, Therapie könne ein „wahrheitssuchender Begleiter sein“ und es führe zu "Spaltung und Konflikten, wenn immer mehr subjektive Weltbilder nebeneinanderstehen“. Dieser Anspruch auf Besitz und Durchsetzung einer absoluten Wahrheit ist auf bedenkliche Weise ignorant, anmaßend und widerspricht den ethischen Grundsätzen unseres Berufsstandes (z.B. der Genfer Deklaration, der Berufsordnung und der Ethikrichtlinie des BDP). Es fehlt hier ganz grundsätzlich an professioneller Demut und Demokratieverständnis. 

Die/der* Autor*in fordert, „der Realität ins Auge zu sehen und sich mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen“, ohne dem selbst nachzukommen. Der wissenschaftliche Diskurs und auch die Gesetzgebung betrachten Geschlecht viel vollständiger als sie/er*.

Die Aussagen werden noch härter: „Subjektive Verirrungen zu bestärken, erzeugt auf Dauer nur neues Leid“. Die tatsächlichen Verirrungen liegen jedoch in der Ausübung struktureller und interpersoneller Gewalt - nicht bei deren Opfern.

Die/der* Autor*in bedauert, dass der ICD-11 die Pathologisierung von Geschlecht aufgegeben hat und sieht dies als „äußerst bedenkliche Entwicklung“ für „unsere Gesellschaft“. Diese so plötzlich aufkommende Besorgnis werte ich als eine manipulative Argumentationsstrategie, die auf unlautere Weise nur die eigene Verachtung zu tarnen versucht. Betroffen machen sollte Diskriminerung, nicht die Förderung von Menschenrechten, die niemand anderen benachteiligen.

Der Brief endet mit einem Vergleich der Geschlechtervielfalt mit den „Erfolgen“ von Donald Trump und Wladimir Putin. Diese manipulative „Argumentationslinie“ (die verwendeten Techniken kann man u.a. benennen als Fehlschluss, Derailing, Whataboutism) ist besonders perfide, da diese Politiker für ihre offene Aggression gegenüber LGBTQIA+ Personen bekannt sind.

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