Liebe Mitglieder,
die politische Gegenwart ist schlimm. Neofaschistische Politik ist weltweit auf dem Vormarsch. Unser Engagement für geschlechtliche und sexuelle Vielfalt und Gerechtigkeit wird dadurch symbolisch und praktisch massiv angegriffen. Die Entrechtung und Gewalt an queeren Menschen nehmen drastisch zu und die gesellschaftliche Solidarität für sie ab. So planen z.B. CDU/CSU, das Selbstbestimmungsgesetz wieder abzuschaffen. Rechte Narrative, Ideologien und Hass gegen Minderheiten sind durch Diskursverschiebungen stärker in die politische „Mitte“ gerückt, als ich es mir als Deutsche*r (Stichwort: Erinnerungskultur) je hätte vorstellen können.
Viele Klient*innen sind noch stärker von der politischen Bedrohung betroffen als wir. Wer sich mit klassenbedingten Aspekten von Geschlecht und Sexualität beschäftigt hat, weiß: queer sein (insbesondere trans*, inter* oder nicht-binär sein) heißt oft, in prekärsten Verhältnissen zu leben. Von Arbeit, Teilhabe, Wohnungsmarkt und Versicherungsschutz ausgeschlossen zu sein. Und natürlich sind Queers Schwarz und of Color, jüdisch, muslimisch, behindert usw., und in diesen Fällen mehrfach von Diskriminierung, Hass und rechter politischer Programmatik betroffen. Der Kampf für geschlechtliche und sexuelle Selbstbestimmung und Gerechtigkeit ist in seinen historischen Wurzeln immer schon ein Kampf gegen Rassismus, Klassismus und andere Unterdrückungsformen gewesen (Stichwort: Intersektionalität), den es weiterzuführen gilt.
Doch wie sollen wir in unserer Arbeit angemessen mit dieser politischen Bedrohung umgehen? Sollen wir unsere Klient*innen aufheitern, ihre Aufmerksamkeit weglenken auf die kleinen erfreulichen Dinge des Alltags? Sie lehren, wie historische Vorreiter*innen mit solchen Situationen umgegangen sind: Arendt, Brecht, Camus predigen? Ihnen verbieten, Nachrichten zu lesen und systematisch Selbstverteidigungskurse verschreiben? Oder einfach gemeinsam loslassen, aufgeben, trauern, mit-ihnen-sitzen, Container sein für verdrängte Gefühle, damit sie nicht platzen? Sollen wir, können wir überhaupt Hoffnung spenden auf eine bessere Zukunft? Und wie kann ich mich selbst als Berater*in/Therapeut*in in diesen Zeiten regulieren? Emotional resilient, ausgeglichen, responsiv - also buchstäblich arbeitsfähig - bleiben?
In all diesen Fragen sollten wir uns austauschen und unterstützen.
Wenn Byung-Chul Han schreibt „In der Angst ist jeder für sich isoliert. Die Hoffnung hingegen enthält eine Dimension des Wir“ verdeutlicht er den Wert des Kollektivs in Angesicht von Bedrohung. Und wenn Audre Lorde schreibt „Selbstfürsorge ist ein Akt politischen Widerstands“, macht sie uns bewusst, dass Selbstfürsorge nicht nur die politische Handlungsfähigkeit erhält, sondern bereits an sich eine politische Handlung ist. Wenn wir diese Gedankengängen zusammenführen, erkennen wir, dass für-uns-sorgen gleichzeitig bedeuten kann für-andere-sorgen und politisch agieren.
Ich wünsche euch Hoffnung, Verbundenheit - und unendlichen Trotz.
stuart andreas
Leitung AGBT
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