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  • Stuart Andreas

Barbin

Vor einiger Zeit las ich von einer historischen Person, die mir seitdem immer wieder durch den Kopf geht als ein Mensch, der verschiedenste Auffassungen von geschlechtlichen Kategorien durchlebte, widerspiegelte und herausforderte. Ich bin kein Experte für diese Person, sondern kann und möchte hier nur in dem Maße auf sie aufmerksam machen, wie meine bisherige Recherche erlaubt.

Michel Foucault sammelte dokumentarisches Material zu dieser Person und schrieb ein Buch über sie, Judith Butler geht auf sie ein, und doch scheint ihr Name bis heute nicht sehr bekannt zu sein. Ich bin erstmalig in einem Buch über den Poststrukturalismus auf sie gestoßen, in einem Kapitel, das sich mit „Differenz und Begierde“ beschäftigt. Die historischen Belege sind teilweise unvollständig und fragmentiert, zuweilen widersprechen die Daten und Interpretationen der Autor*innen einander. Ich fasse hier zusammen, was ich als übereinstimmend wahrgenommen habe, überwiegend orientiere ich mich an Foucault (4).


Historisches/ Daten

Fangen wir bei Namen und Pronomen an, was sich als schwierig genug erweist: Sie wurde als Adélaïde Herculine Barbin geboren und dem weiblichen Geschlecht zugewiesen. Ihre Familie und ihr Umfeld nannten sie anscheinend Alexina. Später sollte sie bis zu ihrem Tod den männlichen Vornamen Abel tragen. Spätere Autor*innen verwenden verschiedene Pronomen für sie, je nach Perspektive auf ihre vermeintlich korrekte Geschlechtsidentität. In ihrer Autobiografie wechselte sie anscheinend die Pronomen, im Titel (Journal d’Herculine Barbin : Publié par elle-même) verwendet sie anscheinend weibliche Pronomen auf sich, weshalb ich diese hier übernehme. Ich werde auch den Namen Barbin verwenden, die einzige Konstante der Namen. In den Memoiren trägt sie den Namen Camille, der gleichermaßen weiblich und männlich besetzt ist. Vermutlich hat sie sich diesen Namen gegeben, vielleicht aber auch der spätere Herausgeber.

Barbin wird wahrscheinlich (Foucault fand die Geburtsurkunde) am 07. November 1838 in Saint-Jean-d`Angély geboren, was in der Nähe von La Rochelle in Westfrankreich liegt. Allerdings findet die Geburt um Mitternacht in der Nacht zum 08. November statt; man kann also schon hier den Beginn eines Daseins „zwischen den Welten“ konstatieren, wenn man poetisch veranlagt ist. 

Ihr Vater (ein einfacher Arbeiter) verstirbt, als sie noch ein Kind ist und sie hat kaum Erinnerungen an ihn. Durch seinen Tod sind Mutter (ohne Ausbildung) und Tochter noch größerer Armut ausgesetzt. Die Mutter gibt sie daher im Alter von 7 Jahren in die Obhut eines Waisenhospizes in ihrer Heimatstadt. Die dortigen Ordensfrauen und Gefährtinnen lieben Barbin. Zu ihrer Freude soll sie sogar im Ursulinenkloster von Chavagnes aufgenommen werden, um Erstkommunion und Erziehung zu erhalten. Dort wird sie das Leben „reicher, adeliger Töchter teilen“ (4/24), die sie ebenfalls schätzen werden. Als sie noch keine 12 Jahre alt ist, spürt sie dort eine erste Zuneigung zum weiblichen Geschlecht: „Das ist es, was ich nicht zu erklären vermag. Manche Neigungen lassen sich nicht erklären. Sie entstehen, ohne dass man sie weckt.“(4/27). Ihrer Kameradin Lea offenbart sie daraufhin ihre Liebe; diese Geste scheint jedoch keinerlei Reaktion zu wecken.

Nach der Erstkommunion (zwischen dem 15. und 17. Lebensjahr) zieht Barbin wieder in ihre Heimat, wo sie im Haus der Familie, für die auch ihre Mutter arbeitet, lebt und als Zofe arbeitet. Es kommt zur Trennung von ihrer ersten Liebe Lea, die zwei Jahre später an Schwindsucht sterben wird. Während dieser Zeit bringt ein Priester sie auf die Idee, Lehrerin zu werden, was sie zunächst nicht will, aber auch nicht abschlagen kann. 17-jährig wird sie zum Zweck der Lehrausbildung an der Ecole normale von Oléron in Le Château angenommen, die von Nonnen geleitet wird. Auch dort zeigt sie Tugendhaftigkeit, gute Schulleistungen, liest viel und ist allgemein sehr beliebt. Von 18 Anwärterinnen für das Unterrichtsdiplom besteht sie als Beste und niemand ist eifersüchtig, weil man damit gerechnet hatte. Zwei Jahre lang arbeitet sie als Lehrerin an einem anderen Ort (nicht identifizierbar) und kehrt dann nach La Rochelle zurück.

Wegen zunehmender Schmerzen und medizinischer Probleme sucht sie immer wieder Ärzte auf, zudem beichtet sie ihre Situation mehreren Geistlichen. Der freundlichste unter ihnen verweist sie an einen Arzt, der nach sehr unangenehmen Untersuchungen feststellt, dass sie männliche und weibliche Geschlechtsorgane besitzt. Deshalb und aufgrund ihrer Zuneigung zum weiblichen Geschlecht, wird konstatiert, dass sie im falschen Körper sei und ihrem „wahren Geschlecht“ zugeführt werden müsse. Infolgedessen wird sie 21-jährig (am 21.06.1860) zum männlichen Geschlecht gehörig bestimmt und unter dem Namen Abel Barbin amtlich neu registriert. Sie darf daraufhin ihre Lehrstelle an der Mädchenschule nicht weiter ausüben, was auch berufliche und finanziell Einbußen und Unsicherheit mit sich bringt. Ihr Fall tritt an die Öffentlichkeit und sie sieht sich Gerüchten und Gespött ausgesetzt. Sie zieht daraufhin von der Provinz nach Paris. Dort wird sie jedoch keine dauerhafte Arbeit finden, weswegen sie zunehmend verarmt. Das letzte, was wir von ihr lesen werden, ist, dass sie sich Geld bei ihrer Mutter leihen muss. Kurz darauf, mit 29 Jahren (1868) begeht sie in einer ärmlichen Pariser Pension (im Viertel Odéon) mit einem Kohlenkocher Suizid durch Kohlenmonoxidvergiftung. Sie hinterlässt ihre Memoiren, die posthum unter anderem Titel veröffentlich wurden. 

Der Arzt Dr. Régnier stellt den Totenschein aus und nimmt die Autopsie vor. Wahrscheinlich ist er es, der das Manuskript (die Autobiografie) dem Sexualpathologen Ambroise Tardieu gibt. Tardieu kürzt das Dokument um Passagen, die zusammenhanglos wirken (dieser Teil verschwindet und bleibt verschollen), und veröffentlicht es unter anderem Namen. Interessanter Weise findet der Fall in Deutschland ein bemerkenswertes Echo, das andernorts ausbleibt. Die Gutachten beschreiben auf detaillierteste Weise Barbins Anatomie.


Barbin über sich

Bitte an die Leser*innen:

„Es wird Ihnen wohl schwerfallen, sich ein klares Bild von den Empfindungen zu machen, die mein außergewöhnliches, merkwürdiges Leben begleiteten. Ich kann Sie nur um eines bitten: dass Sie trotz allen nicht an meiner Rechtschaffenheit zweifeln mögen“ (4/32-33)

„Ich appelliere hier an das Urteil der Nachwelt, das mich lesen wird“ (4/49)

Erster Satz: 

„Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt, und obwohl ich noch jung bin, nähere ich mich zweifellos dem verhängnisvollen Ende meiner Existenz. Ich habe viel gelitten, und habe allein gelitten, allein, von allen verlassen. Mir war kein Platz bestimmt in dieser Welt, die mich floh, die mich verdammt hatte.“ (4/21)

Über die Kindheit:

„Dieses Alter hat es für mich nie gegeben. Denn schon in diesem Alter fühlte ich eine unwillkürliche Abneigung gegen die Welt, als hätte ich schon damals verstehen können, dass ich hier als Fremder leben sollte.“ (4/21)

„Ich war für die Liebe geboren. Aus ganzer Seele trieb es mich dazu; ich wirkte kalt und beinahe gleichgültig, doch hatte ich ein feuriges Herz.“ (4/43)

Als sie für die Lehramtslaufbahn an die Schule wechselt, deutet sie an, Opfer von sexuellem Missbrauch durch einen Schulrat geworden zu sein: 

„Weil man sonst Gefahr läuft, sich seinen Hass zuzuziehen, kann es leicht sein, dass man nun selbst großzügig ist!!!…“(4/41)

Die erste sexuelle Regung:

Als ein starkes Gewitter tobt, flieht sie im geteilten Schlafsaal der Schule ins Bett einer ihr vertrauten „Schwester“/Lehrerin, die sie dann „sanft auf ihre Nacktheit hinwies“. 

„Ein unerhörtes Gefühl beherrschte mich völlig und erfüllte mich mit Scham. Meine Lage ließ sich nicht beschreiben“(4/48) „In meinen Gedanken herrschte die größte Unordnung. Unaufhörlich wurde meine Phantasie von der Erinnerung an die in mir erwachten Gefühle verwirrt, und ich begann sie mir wie ein Verbrechen vorzuwerfen…Es versteht sich, dass ich damals von den Dingen des Lebens nicht das geringste wusste. Ich ahnte nichts von den Leidenschaften, die die Menschen aufwühlten.“ (4/49)

Weitere Erfahrungen mit der Lust:

Während des Sommers reisen die Schwestern ans Meer  (in ein Kloster in Saint-Trojan) und einzig Barbin weigert sich, baden zu gehen, erlebt jedoch die „Fantasien eines Malers“ beim Anblick ihrer halb bekleideten Kameradinnen. 

„Was hinderte mich, daran teilzunehmen? Ich hätte es damals nicht sagen können. Ein Schamgefühl, dem ich beinahe unwillkürlich gehorchte, zwang mich, mich davon fernzuhalten. Es war, als hätte ich gefürchtet, die Blicke derer, die mich ihre Freundin, ihre Schwester nannten, dadurch zu verletzen, dass ich an diesem Vergnügen teilnahm!“ (4/55)

Zu dritt teilen sie sich dort ein Bett: „Ich werde nicht sagen, was für eine Nacht das für mich war!!!“ (4/53)

Für eine Kameradin (ebenfalls Lehranwärterin) und Tochter der Leiterin beginnt sie, romantische und sexuelle Gefühle zu entwickeln. 

„Was ich für Sara empfand, war keine Freundschaft mehr. Es war eine wahre Leidenschaft! Ich liebte sie nicht, ich betete sie an!“ (4/64) 

Zuerst machen die Gefühle Sara Angst, dann lässt auch sie sich darauf ein. Die Mutter bleibt zur allgemeinen Verwunderung (Barbin beschreibt Mechanismen kognitiver Dissonanz) ahnungslos: „Die arme Frau sah in mir nur die Freundin ihrer Tochter, während ich ihr Liebhaber war!…“ (S.67) Diese Romanze führt zunehmend zu Gerüchten und Anstoß, insbesondere die Mutter mahnt zum Einhalt, doch sie setzen ihre körperliche Beziehung - so gut es geht, heimlich - fort. 

„Bei unseren reizenden Tête-á-tête liebte sie es, mir die männliche Anrede zu geben, die mir später das Standesamt zuerkennen sollte. Mein lieber Camille, ich liebe Sie so sehr!!! Warum habe ich Sie kennengelernt, wenn diese Liebe mein ganzes Leben unglücklich machen soll!!“ (S.73)

Über ihren Körper berichtet sie: 

„Meine Züge hatten eine gewisse Härte, die nicht zu übersehen war. Ein leichter Flaum, der täglich weiter wuchs, bedeckte meine Oberlippe und einen Teil meiner Wangen. (…) Mein Körper war davon buchstäblich bedeckt; deshalb vermied ich es selbst bei der größten Hitze sorgsam, meine Arme zu entblößen, wie es meine Gefährtinnen taten. Was meine Statur betrifft, blieb sie wirklich lächerlich mager. All das sprang ins Auge und das erfuhr ich jeden Tag.“ (4/43)

Statt der erwarteten Menstruation, erlebt sie unerklärliche (Samen-) Ergüsse. 

„Die Wissenschaft erklärte ein gewisses Ausbleiben nicht und führte darauf wie selbstverständlich die Art Siechtum zurück, die mich auszehrte“ (4/56)

„Heftige körperliche Schmerzen waren dann zu dem inneren Übel hinzugekommen. Es waren solche Schmerzen, dass ich mehr als einmal mein Ende gekommen fühlte. Es waren namenlose, unerträgliche Qualen, die, wie ich später erfahren habe, wirklich gefährlich waren (…) Diese Schmerzen traten vor allem nachts auf und machten es mir unmöglich, auch nur den leisesten Schrei auszustoßen. Man stelle sich meine Angst vor! Ich hätte sterben können, ohne einen Laut von mir gegeben zu haben!“ (4/66)

Wegen ihrer Schmerzen, vertraut sich einem Priester an, in dem sie jedoch einen Feind wahrnimmt. Er wahrt das Geheimnis, aber wirkt bösartig auf sie. 

„Es war nicht Erbarmen, das ich bei ihm erweckte, es war Abscheu, ein rachsüchtiger Abscheu. Statt mit friedfertigen Worten überhäufte er mich mit Verachtung und Beleidigungen!“ (4/70)

Die Ausbildung endet, der Weg mit Sara trennt sich. Sie trifft einen zweiten Mönch und Beichtvater, dem sie sich freiwillig anvertraut, denn sie „bedurfte der innerlichen Sammlung vor Gott!!!“ (4/76) Er rät ihr, ins Kloster zu gehen und das Geheimnis niemand anderem anzuvertrauen. Doch wieder muss sie wegen Schmerzen einen Arzt konsultieren. Die Untersuchung ist sehr unangenehm, sehr schmerzhaft - die Details in den überlieferten Gutachten lassen keinen Zweifel daran. „Der Arzt stand vor meinem Bett und betrachtete mich mit interessierter Aufmerksamkeit. Leise Ausrufe wie etwa >>Mein Gott! wäre das möglich<< entfuhren ihm. (…) „lassen Sie mich. Sie töten mich!“ ruft sie ihn an. (4/82) Er geht mit vielen Andeutungen, aber ohne Urteil.

Eine Zeit lang lebt sie also in einem von Ambivalenz und Ungewissheit geprägten Schwebezustand vor einem Scheideweg. Doch ihr medizinischer Zustand und ihre berufliche Entwicklungen drängen zu einer Entscheidung hin. 

„Früher oder später musste ich eine Lebensweise ändern, die mir nicht mehr entsprach. Aber bei Gott, wie sollte ich aus diesem schrecklichen Irrgarten fliehen? (…) Es war genug, um einen klareren Kopf als meinen zu verwirren“ (4/67-68)

Daraufhin teilt sie sich einem Bischof mit. „Alles, was die christliche Religion an Ermutigung, an Trost spenden kann, erfuhr ich hier!… Die wenigen Augenblicke, die ich bei diesem großen Menschen verbrachte, sind vielleicht die schönsten meines Lebens.“ (4/90-91) Er bittet sie, das Geheimnis an einen Arzt weiterzugeben und Barbin willigt ein. 

Dieser Arzt war „im vollen Wortsinne ein Mann der Wissenschaft. Er hatte die ganze Tragweite der ihm anvertrauten Aufgabe erkannt“  - dennoch ist die Untersuchung, in Gegenwart ihrer Mutter, wieder sehr unangenehm und auch er macht verletzende Bemerkungen. 

„Es war nun seine Aufgabe, einen Irrtum, der jenseits aller gewöhnlichen Regeln begangen worden war, berichtigen zu lassen. Dafür musste ein Urteil zur Richtigstellung meines Personenstandes angestrengt werden. (…) Er richtete daraufhin einige ermutigende Worte an meine arme Mutter, deren Bestürzung grenzenlos war. >>Es ist wahr, Sie haben eine Tochter verloren<<, sagte er zu ihr, >>aber dafür bekommen Sie einen Sohn, den Sie nicht erwartet haben<<“. (4/92) 

Sie darf daraufhin ihre alte Stelle an der Mädchenschule nicht weiter ausüben. Ihr Fall tritt an die Öffentlichkeit. Als eine Art Vorankündigung der heutigen Toiletten- und Saunadiskussion stellt sie fest: „Ich war allgemeiner Gesprächsgegenstand der Badeanstalten am Meer“ (4/104)

Das Manuskript ist bereits gekürzt, aber auch in dieser Version gibt es nun erstmalig seitenlange Passagen von Konfusion. Direkt und indirekt klingen darin Klagen, Anklagen, Rechenschaftsberichte und Verurteilungen an. Was für eine Qual sich dort abbildet. 

Sie zieht aus der Provinz nach Paris, hofft auf die Anonymität unter Unbekannten und einen Neubeginn Ihres Lebens in männlicher Gestalt. Bei einer Arbeitsvermittlungsstelle zeigt sich jedoch, wie unmöglich der Personenstandswechsel eine Anstellung macht. „Haben Sie gedient? Das war die erste Frage, die man mir stellte. Und auf meine verneinende Antwort: >>Sie werden nur schwer etwas finden<<“ (4/117) 

„>>Hier könnten Sie<<, sagte die Dame ein wenig entgegenkommend, >>den Dienst in kurzer Zeit erlernen; doch Sie erscheinen mir schwächlich, zart und auf keinen Fall für eine derartige Arbeit geeignet.<< (4/119)

Nur vorübergehend kann sie bei der Eisenbahn und in der Finanzverwaltung Arbeit finden. Sie ahnt ihr Verhängnis voraus, kann jedoch im Glauben letzten Trost finden. 

„Ach, der Tod! Für mich wird der Tod wirklich die Stunde der Erlösung sein! (…) Doch Du, mein Gott, bleibst bei mir (…), denn Du zumindest wirst mich nicht verschmähen“ (4/106)

„Ich fand mich also von neuem auf der Suche nach einem Broterwerb. Meine Mittel erlaubten es mir, noch einen Monat abzuwarten. Unter diesen Umständen konnte ich mich für reich halten. Ich brauche ja so wenig. Was ich an einem ganzen Tag esse, würde einem gleichaltrigen Mann mit einem guten Magen kaum als Mittagessen genügen. Besorgt war ich nicht, das kann ich wohl sagen. Ich betrachte jeden Tag, der mir gegeben ist, als sollte es der letzte meines Lebens sein. Und das ganz selbstverständlich, ohne die geringste Furcht. (…) ich war so weit, dass ich mich fragte, wie ich am nächsten Tag zu Mittag essen sollte.“ (4/121-122)

Das größte Unglück ihres Lebens.

„Wenige Tage zuvor hatte ich in schrecklicher Bedrängnis meine arme und gute Mutter um Hilfe angehen müssen. Versteht man wohl, wie mühsam dieser Schritt für einen Sohn (!) ist, der weiß, welche Entbehrung ihr diese Hilfe auferlegen wird! (…) Ich kann wohl versichern, dass dies das Äußerste und Schlimmste ist, wozu ich verdammt werden konnte.“ (4/122)

Kurz darauf nimmt sie sich das Leben. Ihre letzten Worte lauten:

„Welche seltsame Verblendung zwang mich, diese absurde Rolle bis zum Ende durchzuhalten? Ich kann es mir nicht erklären. Vielleicht diese Sehnsucht nach dem Unbekannten, die für den Menschen so natürlich ist.“ (4/126)


Deutungen

Unter heutigen Gesichtspunkten könnte man Barbin in deskriptiver Weise als intergeschlechtliche, vermutlich bigender oder nichtbinäre, vielleicht auch transidente Person einordnen, die sexuell und romantisch zu Frauen hingezogen war. Zu Lebzeiten wurde sie ihrer vermeintlich „wahren Natur nach“ als eigentlich heterosexuell (da sie ja ein Mann sei) bestimmt. In späteren Analysen wurde sie auch in Hinblick auf Lesbianismus diskutiert, was ich angesichts ihrer weiblich geprägten Sozialisation und als weiblich empfundenen Gefühlswelt verstehen kann, aber als unzureichend komplex und unnötig essenzialistisch empfinde. 

Sie wurde weiblich sozialisiert und verbrachte den größten Teil ihres Lebens in ausschließlich weiblichen Institutionen, dennoch empfindet sie sich früh als anders unter ihren „Schwestern“.

Der Aspekt der Klasse findet in der Nachbearbeitung des „Falles“ kaum direkte Erwähnung, doch kann man (wenn ich die Verhältnisse zutreffend interpretiere) diesbezüglich markieren, dass ihr Klassenverhältnis eine Art Bogen schlägt, der die traurige Dramaturgie ihres Lebens wohl entscheidend beeinflusste. Sie stammt aus armen Verhältnissen, lebt dann zwischen adligen und Geistlichen, macht eine sehr gute Ausbildung und arbeitet als Lehrerin, um am Ende nicht einmal einfache Tätigkeiten von Dauer zu finden und deshalb vollständig zu verarmen. Der Klassenaspekt ist entscheidend an das ihr zugewiesene Geschlecht gebunden, insofern ist auch ihr soziales Schicksal trotz ihrer Begabung gesellschaftlich determiniert. 

Ihr Lebensbericht kann als erschütterndes Beispiel dafür angesehen werden, wie existenziell herausfordernd Geschlechtervorstellungen und Rollenzwänge sein können, und was für dramatische (auch fatale) Folgen diese haben können. Wie soll ein einzelner Mensch solch unterschiedliche Erfahrungen und widersprüchliche Erwartungen integrieren können? Wie soll er in streng heteronormativen Strukturen überleben können, die ihn ausschließen?

Die folgenden Zitate beschreiben diese Zerrissenheit eindrucksvoll. Die geschlechtlichen Bezeichnungen gebe ich so wider, wie sie in den jeweiligen Quellen verwendet wurden. 


Belsey (1)

  • „Die Polarität zwischen den Formen der Subjektivität, die für Männer und Frauen angemessen sind, könnte kaum extremer als im bürgerlichen und provinziellen Frankreich der Mitte des 19. Jahrhunderts gewesen sein“ (1/74)

  • „Es scheint, dass er (Abel, Anm.) zwischen zwei Aufgaben gefangen war, von denen keine seinen Fähigkeiten entsprach oder seine Erfahrung berücksichtigte.“ (1/72)

  • „Da Abel dem, was der Arzt sein wahres Geschlecht nannte, zugewiesen wurde, musste er über Nacht eine neue Subjektivität schaffen. Das war unmöglich, und er wurde verwirrt, innerlich zerrissen, depressiv. Vorausgesetzt, dass die Psychoanalyse bezüglich des Unbewussten recht hat, wissen wir alle nicht so richtig, was wir meinen, wenn wir „ich“ sagen. Abel hatte dieses Problem hoch zehn. Ein Leben unter solchen Umständen schien unmöglich, und er setzte ihm ein Ende.“ (1/100)

  • „(…) an dem Punkt der Geschichte, an dem sie (Herculine, Anm.) aufhört, das Subjekt zu sein, das Sprache und Kultur aus ihr gemacht haben, wird das Geschriebene (die Memoiren, Anm.) zusammenhangslos. Das neugeschaffene Subjekt ist weder eine Frau noch ein Mann in dem Sinne, dass Abel keine Erfahrungen als Mann hat; es verfügt über keine männlichen Gewohnheiten, Bindungen oder Möglichkeiten, sich selbst wahrzunehmen, oder kurz: über keine Historie.“ (1/77)

Foucault (4)

  • „Als Alexina ihre Erinnerungen verfasst, ist es nicht mehr weit bis zu ihrem Selbstmord; für sich selbst ist sie noch immer ohne bestimmtes Geschlecht; aber sie ist der Genüsse beraubt, die sie dabei verspürte, keines zu haben, oder nicht genau dasselbe zu haben wie diejenigen, unter denen sie lebte, die sie liebte und die sie so sehr begehrte.“ (4/14)

  • „Sie war nicht von jenem überwältigenden Verlangen durchdrungen, zu jenem „anderen Geschlecht“ zu kommen, wie die es kennen, die sich von der Anatomie verraten oder in einer falschen Identität gefangen fühlen. Es gefiel ihr, glaube ich, in dieser Welt des einen Geschlechts, in der alle ihre Gefühle und alle ihre Liebesabenteuer stattfanden, „anders“ zu sein, ohne je zum „anderen Geschlecht“ gehören zu müssen. Weder Frau, die Frauen liebt, noch Mann, versteckt unter Frauen (…)“ (4/15)

(Von mir kommentierte) Auszüge aus dem Gutachten des Sexualpathologen Ambroise Tardieu, der ihr Manuskript erstmalig veröffentliche:

„Der außerordentliche Fall, der mir zu berichten bleibt, bietet in der Tat das grausamste und schmerzlichste Beispiel für die verhängnisvollen Folgen, die eine irrtümliche Festlegung des Personenstandes bei der Geburt nach sich ziehen kann.“ (4/175)

Tardieu geht also im damaligen Geist davon aus, dass die Festlegung bei der Geburt, nicht etwa im Erwachsenenalter, das Problem gewesen sei. Oder dass gar die grundsätzlich binäre Geschlechtszuweisung das Problem ist, die Barbin ausschließt, pathologisiert und zerreißt. 

Auch verwendet Tardieu die männlichen Pronomen und konstatiert, Barbin „konnte die elende Existenz, die sein neues unvollständiges Geschlecht ihm aufzwang, nicht ertragen.“ (4/175) Heute kann man nur entgegen: falsch!, Barbin war vollständig - Tardieus Verständnis hingegen nicht.

„Zwar waren in diesem Fall die äußeren Merkmale des weiblichen Geschlechts sehr weit ausgebildet; und dennoch waren Wissenschaft und Justiz gezwungen, den Irrtum zu erkennen und diesen jungen Mann seinem wahren Geschlecht zuzuführen.“ (4/175-176) Wieder können wir nur widersprechen: Nein, im Gegenteil, der einzige Irrtum lag in der Wissenschaft und Justiz selbst, die Barbins wahres Geschlecht (wenn man den Streitbegriff verwenden möchte) nicht erkannt haben. 

Wenigstens bei einem Urteil kann man Tardieu zustimmen, das (zufällig oder unbewusst) an den Epilog von Romeo und Julia erinnert: „Schwerlich wird man eine traurigere Geschichte finden, die mit mehr Wahrheit erzählt würde“ (4/176)

Der traurige Titel eines wissenschaftlichen Artikels über Barbin bringt es ebenfalls gut auf den Punkt: Lost in (Trans)lation: The Misread Body of Herculine Barbin.


Quellen

1) Catherine Belsey: Poststrukturalismus. Reclam, 20022) C.J. Gomolka: Lost in (Trans)lation: The Misread Body of Herculine Barbin. In:Synthesis: an Anglophone Journal of Comparative Literary Studies No 4: Translation and Authenticity in a Global Setting, 20123) Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Edition Suhrkamp, 2021. (Original: Gender Trouble. Routledge, Chapman and Hall, Inc. 1990)4) Michel Foucault: Über Hermaphrodismus: Der Fall Barbin. Edition Suhrkamp, 1998, 4. Aufl. 2012 (Original: Herculine Barbin dite Alexina. Gallimard, 2021)

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